Silvestergeständnisse

Ich habe nicht annähernd allen Menschen Weihnachtsgrüße geschrieben, denen ich welche schicken wollte. Ich habe genau genommen das ganze Jahr über bei weitem nicht so gut Kontakte gepflegt, wie ich es machen wollte. Ich habe Geburtstage vergessen und manche auch ignoriert. Ich habe Verabredungen verschoben, Nachrichten nicht oder viel zu spät beantwortet und Besuche abgesagt. Ich habe nicht immer 100 Prozent gegeben, beruflich und auch privat. Manchmal waren es höchstens 50 und manchmal war ich einfach gar nicht da. Ich habe mich nicht auf Seminare in der Uni vorbereitet, nicht die nötige Literatur gelesen, Hausaufgaben am Abend vorher erledigt und ordentlich prokrastiniert. Ich habe in allen Lebensbereichen nicht so viel geschafft, wie ich schaffen wollte. Ich habe das Buch nicht gelesen, das Essen nicht gekocht, den Boden nicht gewischt, das Geschenk nicht gebastelt, die Karte nicht abgeschickt, den Anruf nicht gemacht.

Aber ich bin besser darin geworden, zu mir selber gut zu sein. Ich bin besser darin, meine Grenzen wahrzunehmen und zu kommunizieren, besser darin, mich zurückzunehmen und mir Pausen zu gönnen. Ich bin ein kleines bisschen besser zu mir selbst als noch vor einem Jahr. Und das ist gut.

In Bewegung

Was für ein Jahr. Es ist so viel passiert. So viel hat sich geändert, so vieles kam neu dazu, manches brach weg, manches hat sich verändert. Wir sind alle gewachsen. Manche Triebe haben sich gebildet, manche Knospen sind aufgeblüht, manche Blüten verwelkt, manche Äste verholzt, manche Samen auf den Grund gefallen.

Und nun schon fast wieder Weihnachten. Ich blicke zurück auf dieses Jahr mit einer zweifelhaften Zeitwahrnehmung. War dieses nicht erst vorgestern? Ist jenes wirklich erst letzten Monat passiert? Mein Leben hat sich umgekrempelt. Ich habe ein anderes Zuhause als noch vor einem Jahr – oder eigentlich sogar zwei Zuhauses. Eine Beziehung endete, gleichzeitig abrupt und in Zeitlupe, eine andere Beziehung begann, auch wenn sie fast zu Ende gewesen wäre, bevor sie richtig losging. Das Bild, das ich von meiner Zukunft hatte, war vor einem Jahr ganz anders als jetzt. Aus klaren Unklarheiten wurden unklare Klarheiten. Ein neues Studium fordert mich auf eine wieder ganz neue Art und Weise. Alles ist in Bewegung. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte kurz aussteigen und auf den Pause-Knopf drücken. Mal durchatmen. Innehalten. Stille tanken, Kraft schöpfen. Aber andererseits bin ich, trotz Erschöpfung, trotz der ganzen Aufgaben und der viel zu langen mentalen To-Do-Listen, so glücklich, wie ich es seit vielen Jahren nicht mehr war. Und das ist, auch mitten im Chaos, im Uni-Stress, zwischen Weihnachtsgeschenke-Shopping, Haushaltspflichten, nie beendeten Nähprojekten und Projektdeadlines, ein richtig gutes Gefühl.

Und dann du

Auf einmal bist du da. Gerechnet habe ich ganz bestimmt nicht mit dir. Du kamst ganz plötzlich und bist mir zu Kopf gestiegen, machst mich wild und kribbelig und glitzernd. Du kaperst meine Gedanken und meine Gefühle, nimmst mich voll und ganz in Beschlag, reißt mich heraus aus den Alltagsbanden und entführst mich in eine wunderbare, warme, bunte Welt für zwei.

Und ich genieße das. Du machst, dass ich mich wieder lebendig fühle und frisch und giggelnd froh. Ich will nicht weg von dir, nicht für einen Tag, nicht für eine Stunde, nicht für eine Sekunde. Ich will dich berühren, will dich fühlen und streicheln, will dich hören und sehen und schmecken, mit allen Sinnen will ich dich in mir aufnehmen.

Es ist so gut. So gut mit dir, dass ich am liebsten nur im Jetzt bleiben würde, für immer. Den Moment speichern und immer wieder auf Repeat drücken.

Und dann taucht da am Rande, im Augenwinkel er auf. Der schon fast immer da ist, an den ich mich gewöhnt habe, der auch mal wild und neu war, aber das ist lange her. Dessen Schattenseiten ich kenne, dessen Beständigkeit ich schätzte, dessen ich mir sicher war.

Und ich frage mich: Wirkst du nur deshalb so unwiderstehlich auf mich, weil du so ganz anders bist als er? Oder erkenne ich in dir erst, wie ich auch sein könnte? Bist du ein schöner Traum oder ein dringend nötiges Erwachen? Ich weiß noch nicht, was ich denke. Was ich will. Was mir wichtiger ist, Stabilität oder Aufbruch. Ich weiß nur, dass ich dich nicht verlieren möchte. Nicht jetzt. Vielleicht auch für immer nicht. Ich weiß, dass das, was ich gerade fühle, das Beste ist, was mir in Jahren passiert ist. Und das lasse ich nicht los.

Auf der versteinerten Wanderschaft durchs Labyrinth der unterirdischen Bahnen

Ich laufe um des Laufen willens. Hätte ich nicht gedacht, dass ich so etwas mal machen würde. Ist eigentlich nicht mein Stil. Normalerweise laufe ich um des Ankommens willens. Aber heute will ich nicht unbedingt ankommen. Neues Jahr, neue Gewohnheiten? Nein. Ich mag Ankommen und ich mag es, Ankommen zu mögen. Nur hier, heute, gerade nicht.

Beim Laufen habe ich Kunst entdeckt. Kaspar-Hauser-Zitatkunst. Auf der versteinerten Wanderschaft durchs Labyrinth der unterirdischen Bahnen. Spricht mich gerade sehr an, die versteinerte Wanderschaft. Laufen, aber gleichzeitig steif und starr und bewegungslos.

Wunsch für dich

Himbeerrosa Zuckerwattewolken und heller Sonnenschein. Eine Höhle, in warmes Kerzenlicht getaucht. Das blaue, weite Meer. Der Stall mit den Tieren im Stroh aneinander gekuschelt. Das Prinzessinnenbett mit rotem Samtvorhang. Die Couch, darauf die Lieblingsdecke und dazu eine Tasse heißer Tee. Was auch immer dir gut tut, was dir Geborgenheit und Zartheit und Dir-selbst-genug-Sein schenkt, das wünsche ich dir.

Lockdownfeelings

Der Ball, auf den ich mich so gefreut hatte, fällt aus. Natürlich fällt er aus, ich hatte damit gerechnet. Ihn stattfinden zu lassen, wäre unvernünftig gewesen und ich hätte kein gutes Gefühl gehabt, dorthin zu gehen. Und trotzdem bin ich traurig, dass er ausfällt. Und wütend, weil ich glaube, dass so vieles vermeidbar gewesen wäre. So viel Leid, so viele Tote, so viel Überforderung, so viele Absagen und Ausfälle und Unsicherheiten. Ja, ich verhalte mich vernünftig. Einigermaßen zumindest. Ich sehe ein, warum Schutzmaßnahmen wichtig und richtig sind, ich bin vorsichtig, ich trage Maske und halte Abstand, werde mich rechtzeitig um einen Booster-Termin kümmern, meide große Menschenmassen, teste mich vor Begegnungen mit Risikogruppen. Aber ich habe so sehr die Nase voll. Ich wollte gerne zu diesem Ball gehen. Zu einem Konzert heute Abend, das wegen Corona ausfällt. Zu einem Junggesellinnenabschied in einer Therme, worauf ich so sehr Lust gehabt hätte, aber gerade erscheint es mir zu riskant. Zu der Geburtstagsfeier meiner Mutter, von der noch nicht klar ist, ob sie überhaupt stattfinden kann und wenn ja, ob ich hinfahre, weil die Inzidenz bei mir dreimal so hoch ist wie dort und ich nichts einschleppen möchte. Und ich merke, wie ich wieder dünnhäutig werde. Wie ich, obwohl ich früher großen Spaß an offenen Diskussionen hatte und immer alle Standpunkte verstehen wollte, inzwischen nur noch in meiner Bubble unterwegs bin, weil mich Impfgegner und Coronaleugner so wahnsinnig aufregen. Wie meine Konzentrationsfähigkeit im gleichen Maße abnimmt, wie die Inzidenzen steigen. Wie ich am liebsten nur noch auf dem Sofa sitzen und mit Filmen, Serien, Spielen oder Büchern in fiktive Welten fliehen möchte, in denen Gut und Böse klar definiert sind und am Ende immer die Held*innen gewinnen. Wie ich misanthropisch und zynisch werde, wie ich resigniere und mich biedermeiermäßig in meine kleine heile Privatwelt zurückziehe, aber nicht mal genügend Energie besitze, um die so schön zu machen, wie ich es gerne hätte. Wie mir die Empathie abhanden kommt, langsam, aber stetig, wie ich mit Freund*innen spreche und merke, dass mich ihre Probleme nicht mehr interessieren. Wie ich träge und müde werde, wie mir Kleinigkeiten endlos schwer erscheinen und Alltägliches besonders belastend. Wie meine Gedanken kreisen und nicht zur Ruhe kommen, wie mein Gehirn ein andauerndes Grundrauschen produziert, so dass mir schon das leise Summen meines Laptops, während ich diese Zeilen tippe, unerträglich laut vorkommt. Ich kann nicht mehr. Und es fängt gerade erst wieder an.

Ewigkeit

November. Ewigkeitssonntag. Zeit, an die zu denken, die schon vorgegangen sind. Onkel. Tante G. Oma. Opa. Tante C. Omi. Opapa. Großvater. Großmutter. Auch: Lischen und Nehra und Fine, Rocky und Josi und Gina und Chili und all die anderen tierischen Begleiter auf dem Lebensweg. Sie alle fehlen, manchmal oder dauernd. Und trotzdem schwingt neben der Melancholie und der Trauer ein Erinnerungsglück mit.

Onkel, der mir, als er nach seinem Herzinfarkt schon auf der Trage der Sanitäter lag, noch Anweisung gab, ihm sein Portemonnaie zu holen und mir, der kleinen Sechsjährigen, noch einen 20-DM-Schein in die Hand drückte. Es ist die letzte Erinnerung, die ich an ihn habe – die Großzügigkeit eines Mannes, der selbst nie richtig viel hatte, aber es uns nie an etwas fehlen ließ.

Tante C., bei der wir so viele Kindheitssommer verbrachten. Sie lehrte mich Rummikub und Rommé und Halma und die außerordentliche Fähigkeit, nicht zu verbittern, wenn die körperliche Gesundheit und Mobilität immer weiter nachlässt.

Oma, die es nie leicht hatte in ihrem Leben, wie wenig, das habe ich erst nach ihrem Tod begriffen. Und die dennoch immer da war für uns, die wusste, was uns interessiert und von ihrem äußerst knapp bemessenen Haushaltsbudget noch Euros abknapste, um allen Enkeln Geburtstagsgeschenke zu machen, die wirklich zu uns passten. Das Buch über Briefmarkensammler, mein Thema, als ich 12 war, steht noch immer in meinem Regal, obwohl die Philatelie nun wirklich nicht mehr mein Ding ist – aber es ist das letzte Geschenk von Oma gewesen.

Omi, der ich so viel verdanke. Meine Liebe zu Kreuzworträtseln und Kartoffelpuffern, Pragmatismus und Bodenständigkeit und die unerschütterliche Gewissheit, dass es da draußen jemanden gibt, der zu dir hält, egal was du ausgefressen hast. Unterstützung und Interesse und ein gut gefülltes Süßigkeitenregal, schon in Greifhöhe, als ich noch ein kleiner Knirps war. Geerbt habe ich von ihr die Linkshändigkeit, das „schmerzhafte Madonna“-Gesicht, wenn ich mit der Gesamtsituation arg unzufrieden bin und ein kleines Lippenstiftetui, das in meinem Schmuckregal liegt und mich fast täglich erinnert an gute 25 Jahre.

Großmutter, die mich so herzlich in die Familie aufnahm und in ihr Herz schloss. Die so gerne auf unserer Hochzeit getanzt hätte, das sagte sie immer, allein: die Füße hätten nicht mehr mitgemacht. So vieles hat sie erlebt, Umbrüche und Krisen und Krankheit und ist dennoch so stark geblieben.

Lisa, meine Kleine, das verwöhnte scheue Kätzchen, das sich von mir zähmen ließ und mir seitdem nicht mehr von der Seite wich. Die Charakterkatze, eigenwillig im Äußeren und im Verhalten, aber so loyal, wie niemand es von einer Katze vermuten würde. Sie wartete auf mich, bevor sie starb.

Nehra, die Hündin meines Herzens, auch sie ein elegantes und scheues Tier, das sich seine Menschen sorgfältig aussuchte. Ich bin froh, dazugehört zu haben.

Manche Erinnerungen schmerzen. Aber die meisten sind schön, schön geworden vielleicht oder schon immer gewesen. Im November kommen sie besonders oft zu mir und ich bade darin. Und dann steige ich wieder heraus in meine Gegenwart. Irgendwann, ihr Lieben, spüren wir uns wieder.

Momentaufnahme

Und dann spielt da einer Leonhard Cohen in der Fußgängerzone, unter den künstlichen Tannengirlanden, deren Beleuchtung erst in zwei Wochen angeschaltet wird, zwischen den Marktständen, die noch Antipasti und regionalen Honig verkaufen statt Glühwein und Weihnachtssternen, mitten unter den Menschen, die schon hastig sind vom gefühlten Vorweihnachtswinterstress, aber noch nicht so hastig, dass nicht doch ein paar vor ihm stehenbleiben und zuhören würden, im Schatten der Kirche, die groß und still über ihm aufragt, und ich stehe neben der Antipasti-Bude und freue mich über den unerwarteten stillen Moment im Lauten.

Geduldig sein

Heute mal wieder so ein schlaffer Tag. In der Arbeit irgendwie gestresst, aber gleichzeitig sehr unproduktiv. Auf dem Heimweg im Stau. Gereizt, gestresst, schlechte Haltung, angespannt. Dann in die Kurzandacht, in der Hoffnung, mich zu erden. Die Predigt geht ums Geduldigsein. Ums nicht Hinschauen-können, wenn etwas ineffizient erscheint. Anschaulich illustriert anhand der Bienen auf Pfarrerins Balkon, die einfach nur in die Winz-Blüten fliegen und nicht in die großen, prächtigen Blütentrichter, aus denen doch, so die menschliche Einschätzung, viel mehr, schneller, effizienter herausgeholt werden könnte. Und ich muss lachen, weil ich mich ertappt fühle. Ich kann es auch nicht, Ineffizienz ertragen. Und bin doch selber lange nicht so produktiv und eifrig, wie ich es gerne wäre. Kein Wunder, dass ich mich selbst nerve. Also beschließe ich, heute Abend geduldig zu sein. Geduldig mit mir selbst, wenn ich bei der ersten Pilatesstunde nach dem Urlaub vergessene Muskelstränge mit Mühe reaktiviere und bei den Übungen stets die leichteste Variante wähle. Geduldig, wenn ich mir die kümmerlichen Nudelreste von gestern aufwärme und den Magen mit Chips und Obst auffülle, statt etwas Ordentliches zu kochen. Geduldig, wenn meine Aufnahmefähigkeit eben nicht mehr für die Dissertation von Hannah Arendt über den Liebesbegriff bei Augustin reicht, sondern ich mich stattdessen durch Netflix klicke. Es ist ok, auch mal unproduktiv zu sein. Transitionsphasen sind auch ohne zusätzlichen Druck anstrengend. Das versuche ich zu lernen.